In seiner Abrechnung mit dem vorherrschenden Bildungssystem unserer Zeit geht der mehrfach preisgekrönte britische Bildungsforscher Ken Robinson davon aus, dass wir die aktuellen Herausforderungen (und damit ist nicht Covid-19 gemeint) nur meistern werden, wenn wir damit aufhören, den nachkommenden Generationen mittels veralteten Lehrplänen und Methoden die Fähigkeit zur Kreativität abzutöten. Robinson versteht unter diesem Begriff nicht nur das, was wir meinen, wenn wir sagen, wir seien nicht kreativ, sondern vielmehr das Talent, unkonventionelle Lösungswege einzuschlagen, um die Ecke zu denken, Fehler zuzulassen und daraus zu lernen - kurz, vorgetretene Pfade zu verlassen.
Um diese -natürlich stark vereinfachte- These nachvollziehen zu können, braucht es die eine oder andere Erklärung, weshalb ich die Lektüre des Buches allen ans Herz legen, die zwischendurch ein ungutes Gefühl beschleicht, wenn sie junge Menschen auf dem Weg in ein erfülltes Leben begleiten, sei dies als Eltern, als Lehrer oder als Berufsbildner, als Vorbild - die Liste liesse sich beliebig verlängern. Auch wenn Robinsons Forderungen sicher kontrovers diskutiert werden können, habe ich die eine oder andere Antwort auf meine Fragen gefunden. Allerdings sind auch neue aufgetaucht.
Angefangen mit der Annahme, dass das Durchlaufen einer regulären Schulkarriere nicht unbedingt dazu führt, dass man seine ganz persönlichen Talente entdeckt, musste ich mich zum Beispiel fragen, wie oft, oder vielmehr ob mich überhaupt jemals jemand auf meine besonderen Talente aufmerksam gemacht hat und was diese mit meiner Berufswahl zu tun haben.
Ich glaube zwar nicht, dass ich als Hochseiltänzerin oder Kinderärztin glücklicher geworden wäre, aber rückblickend erscheint mir mein Bildungsweg doch eher von Zufällen geprägt: Ich habe mich fürs Gymnasium entschieden, weil meine Noten gut genug waren. Dann habe mich für das Schwerpunktfach Biologie und Chemie entschieden, weil schon mein Bruder an dieser Abteilung war und ich zu ihm hochgeschaut habe. Schliesslich habe ich mich für Germanistik entschieden, weil im Anglistik-Studium ein Auslandsemester Pflicht gewesen wäre. Und: ich habe mich dafür entschieden, das Studium an der PH anzuhängen, weil ich mit meiner Ausbildung keine für mich in Frage kommenden Alternativen gesehen habe.
Hat mich bei diesen Entscheidungen vielleicht jemand unterstützt, mir den richtigen Weg aufgezeigt, bin ich deshalb dort gelandet, wo ich jetzt bin? Auch nicht wirklich:
Mein Geschichtslehrer am Gymnasium, der mich in vielerlei Hinsicht geprägt hat, meinte lediglich, ich solle auf keinen Fall Geschichte studieren, das wäre brotlos. Mein Lieblingsprofessor an der Uni, der mich aufgrund von (offensichtlich vielversprechenden) Seminararbeiten als Hilfsassistentin angestellt hat, hat mir davon abgeraten, Lektorin oder gar Sekretärin zu werden, weil er mit meinen Überarbeitungen seiner handschriftlichen Manuskripte nicht zufrieden war. Immerhin ist mir in der Zusammenarbeit mit ihm auch klargeworden, dass eine Uni-Karriere für mich nicht in Frage kommt. Mein Fachdidaktiker an der PH gab mir mit auf meinen Weg, dass mein Schuhwerk Geräusche macht, wenn ich mich im Klassenzimmer bewege. Weil ich bis jetzt nicht genau weiss, ob das ein negatives oder positives Feedback war (ich hatte irgendwie keine Lust, nachzufragen), habe ich beschlossen, auch in Zukunft keine Rücksicht darauf zu nehmen, wenn ich mir Schuhe kaufe.
In meinem Fall war das nicht weiter tragisch, weil mir meine Eltern ein gesundes Selbstvertrauen mitgegeben haben, weil sich immer wieder von alleine neue Möglichkeiten ergeben haben, und weil ich das, was ich tue, (zufällig ?) sehr gerne tue. Das kann ich unterdessen mit Gewissheit sagen. Für mich hatte unser Bildungssystem also keine negativen Konsequenzen. Und für viele andere sicher auch nicht. Auch Charles Darwin, der an seiner Schule kein gutes Haar lassen konnte, hat seinen Weg gemacht:
“Nothing could have been worse for my mind than this school, as it was strictly classical; […] The school as a means of education was to me a complete blank."
Aber was ist mit jenen, denen nicht alle Wege offenstehen, weil unser System nicht das abruft, was sie besonders gut können? Oder weil sie in kritischen Momenten jemanden gebraucht hätten, der ihnen sagt, wo ihre Stärken liegen? Die einfach sonst mal eine nette Bemerkung brauchen, auch wenn die Noten (zu) tief sind? Oder mit jenen, die kreative Wege einschlagen und damit aufhören, weil jemand es gut meint, und ihnen lieber den kürzeren Weg zum vermeintlichen Ziel zeigt, statt sie auf dem Umweg zu begleiten?
Das mindeste, was ich tun kann, ist, meine Lernenden darauf anzusprechen, wenn ich glaube, dass sie etwas besonders gut können, statt mich darauf zu konzentrieren, was sie noch nicht können. Vor kurzem habe ich das ausprobiert. Ich befürchte, der Betroffene war mit meinem Lob ziemlich überfordert. Vielleicht kann mir jemand mit einem Lektüretipp weiterhelfen.
Photo by Mark Duffel on Unsplash